Die Zukunft vom Ende her denken

„Imagining the future is a kind of nostalgia“, schrieb einst der amerikanische Jugendbuchautor John Green. Die Vorstellung von der Zukunft und wie grossartig sie sein könnte helfe uns, den Alltag der Gegenwart zu bewältigen. Zugleich, so John Green, ist diese Zukunftsfantasie auch nostalgischer Eskapismus, den wir benutzen, um aus der Gegenwart zu flüchten.

Wir Facilitatoren und Facilitatorinnen sind jedoch vielmehr der Überzeugung, dass die Zukunft, die wir uns vorstellen, mehr sein kann als Nostalgie und Tagträumerei. Wenn wir Gruppen und Teams durch Transformationsprozesse begleiten, sprechen wir darum gern vom Futur II: was wird gewesen sein? Das Futur II beschreibt einen Zustand am Ende der Reise. Es ist jener Punkt in der Zukunft, an dem wir bereits auf einen früheren Erfolg zurückblicken können. Wie fühlt sich das an? Wo sehen wir uns selbst stehen an diesem Punkt? Mit diesen Fragen ermöglicht uns das Futur II, uns selber, die Gemeinschaft, unser Projekt und vieles andere von aussen zu sehen. Diese Fragen öffnen der Kreativität den notwendigen Raum.

Ein Nachruf auf das eigene Leben

Dass sich die Zukunft besser vom Ende her gestalten lässt, sagt auch der Soziologe Harald Welzer. Er empfiehlt, einen Nachruf auf das eigene Leben zu schreiben, das noch vor uns liegt. „Wir verändern uns mit den sich verändernden Verhältnissen“, erklärt er 2021 in einer SRF-Dok-Sendung Sternstunde Philosophie. Ohne Referenzpunkt, ob das, was wir jetzt wollen, auch dem entspricht, was wir vor ein paar Jahren von uns erwartet haben, geraten wir leicht in einen Alltagsstrudel aus Gewohnheiten und Zwängen, die nur schwer abzulegen sind. «Wenn man einen Nachruf auf ein zu lebendes Leben schreibt», führt Harald Welzer aus, «dann hat man eine Art Matrix und kann immer mal nachgucken und weiss, wie weit man sich eigentlich davon entfernt hat?»

Unmittelbar nach einem früheren Auftritt bei Sternstunde Philosophie erlitt Harald Welzer einen Herzinfarkt. Er überlebte, erfuhr aber später von den Ärzten, dass vierzig Prozent aller Patienten einen solchen Infarkt nicht überleben würden. Für Harald Welzer war und ist dieser Vorfall die Bestätigung seiner These: wir leben, als handle es sich um die Probe! Aber das Leben ist die Aufführung! Das grosse gesellschaftliche Problem ist, dass wir kein vitales Konzept vom Tod und vom Sterben haben. Stattdessen leben wir mit einer Illusion der Unsterblichkeit. Der Gedanke, dass sich in einer halben Stunde alles ändern könnte, kommt uns gar nicht.

Im Futur II liegt ein Möglichkeitsraum

Indem wir das Futur II auf unser eigenes Leben anwenden, werden so manche Stressfaktoren im Alltag leichter: Was ist mir wirklich wichtig im Leben? Muss ich mich wirklich über diese Email ärgern? Das Futur II kann uns eine Stütze sein, das Wichtige vom Unwichtigen in unserem Alltag zu trennen.

Für Harald Welzer bedeutete der Herzinfarkt eine Art Riss durch sein bisheriges Leben. Aber Risse, so meinte auch schon der Sänger Leonard Cohen, sind in allem. Nur so kann Licht nach innen dringen. Das Licht, das durchfällt», schlussfolgert sinngemäss Harald Welzer, stellt wiederum die Dinge anders dar, und das heisst auch, dass sich da ein Möglichkeitsraum öffnet.

In diesem Möglichkeitsraum, der entsteht, wenn sich unser Leben so scheinbar selber auf den Kopf stellt, können wir jederzeit die Richtung wechseln und Neues ausprobieren. Dabei geht es noch nicht einmal darum, einen radikalen Richtungswechsel einzuschlagen. Vielleicht finden die wichtigsten Veränderungen sogar dort statt, wo wir uns schon befinden: Gärtner*innen, welche neue Pflanzen anbauen, Manager“innen, die neue Prinzipien der Personalführung einführen usw. Diese Veränderungen im Kleinen schaffen einen Handlungsspielraum im Grossen; denn wie wir mit uns selber und den Menschen in unserem Alltag umgehen hat einen Einfluss darauf, wie wir mit der Gesellschaft und der Umwelt umgehen.

Das Potenzial in uns

„Man verbringt sein ganzes Leben in diesem Labyrinth“, schreibt John Green also über das Leben, „und denkt darüber nach, wie man ihm eines Tages entkommen kann, und wie großartig es sein wird. Und die Vorstellung von dieser Zukunft hält einen aufrecht, aber man tut es nie.“ Ohne diese Risse, durch die Licht fällt, durch die wir einen Blick auf die Wirklichkeit ausserhalb unserer eigenen Wahrnehmung nehmen können, irren wir ewig im Labyrinth der Alltagsgewohnheiten herum. Aber das Schöne ist, wenn wir das Licht zulassen und bereit sind hinzusehen, dann erkennen wir das Potenzial, das immer schon in uns gewesen ist.

John Green geht hier sogar noch einen Schritt weiter, indem er schreibt: „Der einzige Weg aus dem Labyrinth des Leidens ist, zu vergeben.“

Buchtipp

Harald Welzer: «Nachruf auf mich selbst. Die Kultur des Aufhörens»

2023, S. Fischer Verlag

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