
Verantwortung in Führungspositionen
Dieser Text wurde von Tanja Bahr & Verena von Nottbeck geschrieben und erschien erstmals im Facilitating Magazine #4, Dezember 2023
Was bedeutet Entmündigung? Eine Spurensuche
Als wir mit dem Schreiben dieses Artikels anfingen, betrachteten wir «Ermächtigung» und «Entmündigung» als zwei einander gegenüberliegende begriffliche Pole. Wir waren uns über unser Verständnis des «Ermächtigung»-Begriffs einig und konnten uns gut dazu austauschen. Anders sah es aber auf der anderen Seite aus. Wir fühlten einen damals noch abstrakten inneren Widerstand gegen das Wort «Entmündigung» und kamen so überhaupt nicht in Fahrt.
Das lag vor allem daran, dass wir uns auf Organisation und Führung fokussieren wollten. Irgendwie passten die beiden Begriffe überhaupt nicht zusammen. Also fingen wir an, sowohl im weltweiten Netz als auch beim Chatbot ChatGPT, nach einer verwendbaren Definition zu suchen. Immer landeten wir bei ähnlichen, für uns nicht wirklich hilfreichen Definitionen.
Eine Diskussion mit Freunden aus der Transaktionsanalyse führte uns zur Frage, woraus der Begriff «Entmündigung» entstanden ist und in welchem Bezug er heute verwendet wird. «Entmündigung» ist ein feststehender Begriff im Betreuungsrecht und bedeutet, dass eine Person nicht mehr in der Lage ist, eigene Entscheidungen zu treffen. Sie ist damit nicht mehr geschäftsfähig und braucht einen Vormund. Die Herkunft des Wortes hat mit dem Mund, etwa im Sinne von «den Mund verbieten» nichts zu tun. Vielmehr entstammt der Begriff «Entmündigen» dem germanischen Wort für «Munt», was so viel wie «Schutz» oder «Hand» bedeutet. Die sogenannte «Muntgewalt» entzog im Mittelalter jemandem das Recht, bestimmte juristische Handlungen auszuführen. In dem Sinne war für uns der Begriff der «Entmündigung» im Organisationskontext nicht mehr nutzbar. Es mag sein, dass sich Menschen in Organisationen entmündigt fühlen, aber sie haben juristisch gesehen dennoch die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen. Wir entschieden uns darum dafür, unsere Auseinandersetzung mit dem Thema nach aussen transparent zu machen. Wir lassen die Bedeutung der «Entmündigung» in jenem Kontext, wo sie hingehört: im Betreuungsrecht. Für unsere Organisations- und Führungsbetrachtungen nutzen wir stattdessen den Begriff der «Entmächtigung».
Wir möchten damit klarstellen, dass wir in Organisationen immer noch selbst die Entscheidungshoheit über unser Handeln haben. Je nach Entscheidungen, die wir treffen, verlieren aber unter Umständen an Macht – teilweise oder ganz. Ermächtigung und Entmächtigung sind nah beieinander und zugleich gegenseitige Pole. Die Ermächtigung gibt uns zunächst ein gutes Gefühl, aber wir sollten uns dennoch immer wieder mit den Erwartungen in unserem Arbeitsumfeld beschäftigen. Im Idealfall können wir Klarheit gemeinsam darüber herstellen und uns auf Augenhöhe begegnen. Aus der Entmächtigung können wir wiederum etwas Neues entstehen lassen, wenn wir sie als Chance und nicht als Selbstentwertung betrachten.
«Die drohende Entmächtigung schwingt wie ein Damokles-Schwert über einem.»
Ein Gespräch zwischen Tanja und Verena
Verena: Tanja, wir beide haben eine Fülle von Erfahrungen in grossen Organisationen gesammelt, insbesondere in Führungspositionen. Lass uns über «Ermächtigung» sprechen – welche Gedanken kommen dir dazu?
Tanja: Ermächtigung ist ein faszinierendes Thema, das meine berufliche Entwicklung massgeblich geprägt hat. Aus meiner Sicht ist Ermächtigung ein Instrument, um Mitarbeitende zu befähigen, ihren Arbeitsrahmen kontinuierlich zu erweitern. Dies geschieht auf der Grundlage persönlicher Fähigkeiten und Kompetenzen wie Zuverlässigkeit, Vertrauenswürdigkeit und Leistungs- und Einsatzbereitschaft. Die Länge der Betriebszugehörigkeit spielt dabei auch noch eine Rolle.
In grossen Organisationen kann Ermächtigung den Weg zu einer erfolgreichen Karriere ebnen, sei es durch zusätzliche Aufgaben oder die Übernahme von Führungsverantwortung. Sie ermöglicht es Mitarbeitenden, sich über die Jahre hinweg zu entwickeln und auf der Karriereleiter aufzusteigen. Ermächtigung geschieht jedoch nicht von allein – sie setzt voraus, dass Vorgesetzte gezielt Themen delegieren und Verantwortung abgeben. Ein Grundprinzip dabei ist, die Mitarbeitenden zu fordern und zu fördern.
«Ermächtigung ist ein Instrument, um Mitarbeitende zu befähigen, ihren Arbeitsrahmen kontinuierlich zu erweitern.»
Verena: Da kann ich in Teilen gut mitgehen. Bei mir war der Fokus die Leistungsbereitschaft, mein persönlicher Einsatz, meine Mobilität, aber auch zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle die richtigen Leute zu treffen. Und die Ermächtigung(en) waren ja auch immer etwas wie Anerkennung und Respekt, also positive Bestätigung. Ohne das konkret darüber gesprochen wurde, was die damit verbunden Erwartungen des Unternehmens waren. Meine Karriere war – im Nachhinein betrachtet – richtig klasse, weil es ständig über viele Jahre hierarchisch aufwärts ging. Das gab mir das gute Gefühl, es geschafft zu haben – na ja, und Einfluss zu haben. Wie war es denn so bei dir?
Tanja: Meine berufliche Reise begann in der IT als Software-Entwicklerin und mein Verantwortungsbereich war damals recht begrenzt. Doch im Laufe der Zeit wurde er immer weiter ausgedehnt mit höherwertigen Aufgaben und Arbeitsgruppen- oder Projektleitungen und später mit immer grösser werdenden Führungsverantwortungen. Das hat mich mit Stolz erfüllt. So wie du es auch empfunden hast, war es für mich eine Anerkennung meiner Leistung. Heute geniesse ich grosse Autonomie und führe eine eigene Organisationseinheit, die Entscheidungen eigenverantwortlich als sogenannten Ende-zu-Ende-Service umsetzen kann. Aber wie Du bereits gesagt hast, das passiert nicht über Nacht. Es ist das Ergebnis zahlreicher Ermächtigungen über einen Zeitraum von vierundzwanzig Jahren. Mit jeder Beförderung erhielt ich mehr Verantwortung und heute habe ich den grössten Spielraum in meiner beruflichen Laufbahn.
Verena: Das kenne ich, es dauert. Ich jedenfalls hatte keinen konkreten Plan zum Thema Karriere. Irgendwie passierte es, weil ich mich so in die Organisation eingebracht habe, wie es passend war. Im Laufe der Zeit wurde auch mein Verantwortungsbereich immer grösser und komplexer und ich konnte mich gut auf neue Rahmenbedingungen einstellen. Was mir allerdings im Laufe der Zeit bewusst wurde, war, dass mich das auch gebunden hielt und ich mich auf diffuse Weise dem Unternehmen verpflichtet fühlte. Wie fühlst du dich jetzt auf dieser Ebene der Verantwortung?
Tanja: Ich spüre definitiv die Last auf meinen Schultern. Das treibt mich an, etwas daraus zu machen. Die Erlaubnis durch die Ermächtigung und mein innerer Antreiber sind eine schöpferische Kombination. Ich stehe vor grossen Herausforderungen. Wir entwickeln ein völlig neues IT-Geschäftsfeld und ich darf es aufbauen. Ich schätze die Handlungs- und Gestaltungsfreiheit sehr. Gleichzeitig bringt sie jedoch eine neue Dimension von Komplexität mit sich, die ich in meiner früheren Karriere nicht erlebt habe. Das bedeutet, dass ich mich selbst neu positionieren und aufstellen muss, um meinen Bereich erfolgreich weiterzuentwickeln.
Ermächtigung ist also ab einem bestimmten Punkt alles andere als trivial. Jetzt muss ich auch andere Menschen ermächtigen und Aufgaben delegieren, um die täglichen Herausforderungen zu bewältigen. Ich sorge dafür, dass auch andere Karriere machen können, indem ich zukünftige Führungskräfte ausbilde und ermächtige. Es ist ein Kreislauf – so funktioniert eine Organisation, die sich weiterentwickelt.
Verena: Ich kenne eine solche Situation. Meine letzte Funktion war ähnlich herausfordernd. Das an sich war für mich inhaltlich aber keine grosse Schwierigkeit, eher die Führungs- und kulturellen Rahmenbedingungen, die sich über die Jahre verändert haben.
«Es ist eine Gratwanderung zwischen Vertrauen und der damit verbundenen Unsicherheit, aber es treibt uns dazu, unser Bestes zu geben.»
Verena: Als ich meine Karriere als Sachbearbeiterin begann, erhielt ich nach und nach immer mehr Aufgaben und Sonderaufgaben. Da ich auf alles, was ich tat, auch Lust hatte und leistungsorientiert war, betrachtete ich es als eine Einladung und Erlaubnis zum Handeln, die mir Einfluss verschaffte. Allerdings war diese Ermächtigung nicht immer automatisch mit der nötigen Befähigung verbunden. Ich musste mir oft selbst beibringen, wie ich die neuen Aufgaben bewältigen konnte. Das führte manchmal zu Unsicherheit, ob ich den Erwartungen gerecht werden konnte. Immer wieder spielte mir mein «Sei-Perfekt-Antreiber» einen Streich. Dennoch war stets das Vertrauen da, dass ich in der Lage war, die Aufgaben erfolgreich zu meistern. Mit steigender Verantwortung stieg auch der Druck, und ich wusste, dass es irgendwann kippen und zur Entmächtigung kommen könnte.
Tanja: Deine Erfahrungen spiegeln gut wider, wie Ermächtigung in der Praxis oft abläuft. Die drohende Entmächtigung schwingt dabei wie ein Damokles-Schwert über einem. Es ist eine Gratwanderung zwischen Vertrauen und der damit verbundenen Unsicherheit, aber es treibt uns dazu, unser Bestes zu geben.
Verena: Ich erlebte, dass mir Aufgaben temporär aus meinem Verantwortungsbereich genommen wurden. Das geschah hinter den Kulissen und war ein sehr subtiler Prozess ohne die ansonsten damit verbundenen Formalien. Ich fühlte mich zunehmend irritiert und eingeschränkt, und es dauerte, bis ich tatsächlich verstand, was passierte. Für mich wäre es einfacher gewesen, wenn Klarheit über die Motive des Handelns meiner Hierarchie bestanden hätte und mit mir gesprochen worden wäre. Allerdings sind meiner Meinung nach Matrixorganisationen besonders anfällig für Intransparenz.
Tanja: Das sind die verdeckten Spiele der Macht in solchen Organisationen, die sich für alle Beteiligten auszahlen können. Die einen fühlen sich mächtig dabei, die Karrieren von Menschen zu bestimmen und darüber zu entscheiden, wann sie weiter geht oder ob sie beendet wird. Die anderen lassen es mit sich machen, weil sie auf einer Welle von Anerkennung auch grossen Stolz empfinden und bei dem damit verbundenen Glücksempfinden den Fall nicht kommen sehen.
«Gestandene Männer standen mit Tränen in den Augen vor mir, haben um langjährige Arbeit und die fehlende Wertschätzung getrauert.»
Ich habe Führungskräfte erlebt, die grosse Projekte erfolgreich jahrelang geleitet und Organisationsstrukturen aufgebaut haben und mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattet wurden. Sie wurden vom Management dafür gefeiert und gelobt. Aber als sie anfingen, gegen die Vorgaben zu intervenieren und Entscheidungen infrage zu stellen, wurden sie von ganz oben radikal entmachtet und ihrer Rolle enthoben, teilweise von heute auf morgen. Danach wurden ihnen Aufgaben ohne Tragweite zugewiesen und der Elefantenfriedhof hatte einen neuen Gast – einen weiteren abgesägten Manager ohne weitere Verwendung. Gestandene Männer standen mit Tränen in den Augen vor mir, haben um langjährige Arbeit und die fehlende Wertschätzung getrauert. Hattest Du auch solche Erfahrungen?
Verena: Ja, ich war wütend, enttäuscht und traurig. Aber ich habe für mich einen Ausweg gefunden, indem ich die Entscheidung traf, das Unternehmen zu verlassen.
Tanja: Das ist eine mutige Entscheidung. Es zeigt, dass wir in der Lage sind, auf Veränderungen zu reagieren und uns neuen Herausforderungen zu stellen. Und auch existenzielle Entscheidungen zu treffen, wenn der Druck so gross ist, dass wir etwas ändern müssen, weil wir nicht noch mehr aushalten wollen. Und damit ermächtigen wir uns selbst, für uns gut zu sorgen.
Der Weg zu diesen Begriffen war ein Entwicklungsprozess im Raum der Semantik mit uns selbst. Er hat uns sensibel dafür gemacht, wie wichtig es ist, die passenden, richtigen und eindeutigen Begrifflichkeiten zu nutzen. Für die Diskussionen und Impulse danken wir Renate Franke, den beiden Barbaras (Zuber und Backhaus) und Luise Lohkamp. Und wen es interessiert, wie das Wort «Entmündigung» entstanden ist, und wofür es heute steht, wird im weltweiten Netz sicher fündig.
Die Autorinnen
Verena von Nottbeck war lange Jahre Führungskraft in einem europäischen Konzern und hat nach ihrem bewussten Ausstieg die Firma Evolving Organisations gegründet. Sie beratet heute Führungskräfte und Organisationen als transaktionsanalytische Beraterin, Coach und Facilitatorin in Veränderungsprozessen. vnottbeck.de
Tanja Bahr: Als Führungskraft in der öffentlichen Verwaltung, Coach und Facilitatorin begleitet sie Menschen durch Veränderungen.
Facilitating Magazine
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