
Die Theorie U nach Otto Scharmer
Was ist die Theorie U?
Die Theorie U beschreibt eine Reihe von Grundsätzen und Methoden, die Gruppen und Einzelpersonen durch transformative Veränderungsprozesse führen. Ihr Ziel ist es, veraltete Muster und Arbeitsweisen gehenzulassen, um das größte mögliche Potential für die Zukunft zu erkennen und dieses zu verwirklichen.
Die Methode der Theorie U will ein ganzheitliches Bewusstsein für Gruppen schaffen. Anstatt sich auf das eigene, einzelne Wohlergehen zu konzentrieren, lernen die Teilnehmer:innen, das System, die Gruppe, als Ganzes zu betrachten. Sie bewegen sich von einem Ego-Systembewusstsein hin zu einem Öko-Systembewusstsein.
Hier findest du die «Theorie U in A Nutshell» als praktische Infografik
Vom Bio-Bauernhof in die Organisationsentwicklung
Otto Scharmer, Begründer der Theorie U und Lehrbeauftragter am Massachusetts Institute of Technology (MIT), wuchs auf einem Bauernhof in der Nähe von Hamburg auf. Seine Eltern waren Pioniere der ökologischen Landwirtschaft und es war schließlich die nachhaltige Pflege ihrer Felder und Äcker, die Scharmers Forschung inspirierte: So wie es Felder in der Landwirtschaft gibt, auf denen Saatgut wächst, gibt es auch soziale Felder. Unternehmen, Organisationen, Universitäten, Schulen, Vereine und Familien – soziale Felder spannen sich über unser ganzes Leben. Aus jedem Feld wächst eine sichtbare Saat. Leistung, Kollegialität, Produktivität. Aber zu jedem Feld gehört auch ein Teil, der nicht sichtbar ist: die Qualität des Bodens.
Die Qualität des Bodens der sozialen Felder zeigt, welche Beziehungen wir zu unseren Mitmenschen pflegen, zum Planeten als Ganzes, aber auch zu uns selber. Wir als Individuen sind Teil eines kollektiven Körpers. Den Schmerz der Gruppe spüren wir oft auch individuell, obwohl wir selber vielleicht gar nicht betroffen sind. Das Gleiche gilt für Freude und Erfolgsgefühle. Unsere gesamte Aufmerksamkeit sollte daher darauf ausgerichtet sein, die Qualität des Bodens zu verbessern.
Das Selbst von gestern und morgen
Das soziale Feld wird durch ökologische, soziale und spirituelle Spaltungen gestört. Diese Spaltungen treten durch systemische Trennungen auf. So entsteht eine ökologische Spaltung, wenn sich das Selbst von der Natur abtrennt. Eine soziale Spaltung wird durch die Trennung des Selbst von den Mitmenschen hervorgerufen und die spirituelle Spaltung, die am seltensten bemerkt wird, entsteht durch eine Entfernung vom eigenen Selbst.
Das Selbst ist die wichtigste Komponente in der Theorie U – und es besteht in zwei Formen: Das eine ist das Selbst, das ich heute bin. Das andere ist das Selbst, das ich morgen sein könnte. Dieses zweite Selbst ist schwerer greifbar, aber wenn wir die Verbindung zu ihm unterbrechen, kommt es zu Energieverlust und Symptomen von Burnout, Depressionen und der Selbstmordgefährdung. 2010 starben weltweit mehr Menschen an Selbstmord als durch Krieg, Mord und Naturkatastrophen zusammen.
Presencing: vom Ego-Systembewusstsein zum Öko-Systembewusstsein
Führungskräfte stehen vor der immer gleichen Herausforderung: Probleme lassen sich nur in der Gruppe lösen. Um solche Dissonanzen innerhalb eines sozialen Felds zu beheben oder ihnen vorzubeugen, ist eine Veränderung unserer Denkweise nötig: Wir müssen lernen, das Ego-Systembewusstsein durch ein Öko-Systembewusstsein zu ersetzen. Im Zentrum steht nicht länger mein eigenes Wohlergehen, sondern das der gesamten Gruppe.
Dieser Prozess heißt in der Theorie U «Presencing», eine Kombination aus Sinn («Sense») und Gegenwärtigkeit («Presence»). Die Gruppe muss durch verschiedene Stufen des Beobachtens geführt werden und dabei lernen, das System von den Rändern her spüren und sehen. Der Prozess kann als transformative Reise betrachtet werden, deren Ziel es ist, die Vergangenheit loszulassen, sich selber zu öffnen und die Zukunft neuzugestalten.
Die Reise beginnt auf der linken U-Achse und führt schrittweise nach unten. Dabei lernt die Gruppe, alte Gewohnheiten Arbeitsweisen loszulassen und sich Neuem zu öffnen. Sie verbindet sich mit der Welt, die außerhalb der bestehenden Paradigmen ihrer Mitglieder liegt. Unten, in der U-Kurve, kommt es zu einer Verbindung mit der Welt, die aus unserem Innern entsteht. Und dann, entlang der rechten U-Achse, versucht die Gruppe, das Neue, das sie unten geschaffen hat, in die Welt zu bringen.
Mit Geist, Herz und Willen zur systemischen Veränderung
Voraussetzung für eine systemische Veränderung sind folgende drei Dinge: Erstens, ein offener Geist, der uns erlaubt, alte Gewohnheiten loszulassen und die Dinge neu zu betrachten. Zweitens, ein offenes Herz, mit dem wir die Fähigkeit entwickeln, das Problem nicht nur von unserem eigenen Standpunkt aus, sondern auch von dem der Interessensvertreter:innen zu betrachten. Und drittens, der offene Wille oder die Fähigkeit, das Alte los- und etwas Neues zuzulassen.
Geist, Herz und Wille sind die «Blind Spots», blinde Flecken zahlreicher Veränderungsbemühungen. Ihnen stehen oft drei Quellen des Widerstands im Weg, mit denen wir lernen müssen umzugehen: Einem offenen Geist steht die Stimme der Verurteilung gegenüber, das offene Herz wird mit der Stimme des Zynismus konfrontiert und der offene Wille mit der Stimme der Angst.
Die Probleme, die nach außen treten, die Saat des sozialen Feldes gewissermaßen, sind ein Spiegel der inneren Probleme, der Qualität des Bodens. Durch Achtsamkeit lernen wir, das ganze System von außen zu betrachten und unsere Aufmerksamkeit mit Aufmerksamkeit zu betrachten. Diese Veränderung innerhalb einer Gruppe nennen wir «Dialog». Sie ist die Fähigkeit des Systems, sich selber zu sehen, zu spüren und mit sich selbst zu verbinden.
Die U-Kurve: Wo sich das gegenwärtige und das zukünftige Selbst begegnen
In der U-Kurve liegt das innere Tor. Um es zu durchschreiten, müssen wir alles loslassen, was wir nicht unbedingt brauchen. Erst indem wir uns von unserem alten Ego, von unserem alten Selbst trennen, sind wir empfänglich für die beste mögliche Zukunft. Und das ist der Kern des «Presencing»: Das Aufeinandertreffen meines gegenwärtigen Selbst mit meinem zukünftigen Selbst in der U-Kurve. Hier beginnen die beiden Versionen des Selbst, einander zuzuhören und miteinander zu räsonieren.
Hat eine Gruppe diesen Schritt erst gemacht, sind die Veränderungen grundlegend. Individuelle Teilnehmer:innen und die Gruppe als Ganzes beginnen, mit einem erhöhten Energielevel und einem größeren Sinn für Zukunftsmöglichkeiten zu arbeiten:
«Im Physikunterricht lernen wir, dass eine Materie ihr Verhalten ändert, wenn sie von einem Zustand in einen anderen übergeht. Wasser beispielsweise wird bei einer Temperatur unter dem Gefrierpunkt (0° C) zu Eis. Wenn es erhitzt wird und die Temperatur über 0° C steigt, schmilzt Eis und wird flüssig. Wenn Wasser erhitzt wird und über 100° C steigt, wird es zu Dampf. In allen drei Zuständen sind die Wassermoleküle (H2O) dieselben, doch die Materie verhält sich sehr unterschiedlich. […] In sozialen Feldern sehen wir etwas Ähnliches. Wenn das Muster des kollektiven Verhaltens (z.B. Absencing) einer Gruppe oder eines Systems in ein anderes (z.B. Presencing) übergeht, bleiben die Individuen in der Gruppe bzw. dem System zwar dieselben, aber die Verbindungen zwischen ihnen haben sich grundlegend verändert, und das bedeutet, dass sowohl die Gruppe als auch die Mitglieder nicht mehr dieselben sind.»
(Otto Scharmer)
Kopf, Herz und Hände schaffen einen neuen Prototypen der Zukunft
Anschließend bewegt sich der Prozess entlang der rechten U-Achse in drei Schritten wieder nach oben: Auf der Stufe des Zulassens beginnen die Teilnehmer:innen die Werte und Richtlinien, die sie sich für ihre Zukunft wünschen, zu erkunden. Auf der Stufe des Ausübens werden Visionen und Vorhaben offengelegt. Die Teilnehmer:innen reflektieren, wie die Organisation der Zukunft aussieht. Auf der Stufe der Verkörperung verbinden die Teilnehmer:innen Kopf, Herz und Hände und schaffen so einen neuen Prototypen.
Von ihrer Prozessreise zurückgekehrt, reflektiert die Gruppe, wie die Zukunft aussieht, von der sie ein Teil sein möchte. Es ist an der Zeit, Ideen nicht nur zu spinnen, sondern sie auch umzusetzen und auszuprobieren!
Die Methode der Theorie U lehrt uns zu handeln, indem wir vom Ganzen ausgehen. Indem wir die Beziehung zu einander, zum Planeten und zu uns selber verändern, können wir den Boden des sozialen Feldes kultivieren. Die Theorie U versucht, in die tieferen Quellen von Spitzenleistungen anzuzapfen und so unsere Führungskapazitäten wachsen zu lassen.